Trachtenmieder – die unendliche Geschichte

Tja, bis zum gesetzten Termin habe ich das Mieder nicht fertiggekriegt. Stattdessen habe ich das „Nanny Ogg“-Kleid, d.h. die schwarze Tournüre, um einen Überrock ergänzt, weil das, anders als das Mieder, in der verbleibenden Zeit zu schaffen war. Überrock, das ist die geraffte „Schürze“, die man oft vorn an Tournürenkleidern hat, in Kombination mit einem hinteren Teil, der gerafft sein kann oder nicht. Bei erhaltenen Tournürenkleidern ist der Überrock meist in den Rock integriert, aber ich habe das Kleid so angelegt, daß der Überrock extra ist. D.h. man kann Taille und Rock einfach so tragen (z.B. für die Nanny-Rolle oder für ländliche bzw. Dienstboten 1880er bis ca. 1910) oder mit dem Überrock für 1880er sonn- und feiertags.
 
Leider kam der Überrock an Pfingsten trotzdem nicht zum Einsatz, weil ich beim Einpacken die Schnürstiefel stehengelassen hatte, so daß ich das ganze Wochenende in Holzschuhen rumlaufen mußte. Da konnte ich Sonntagsstaat natürlich knicken. 🙁 Das Schwarze hatte ich am Sonntag trotzdem an, und mit der weißen Latzschürze und dem weißen Kopftuch hielten mich einige für eine Nonne. *augenroll* Heilig’s Blechle!
 
Den Überrock, genauer gesagt den vorderen Schürzenteil, habe ich recht langwierig an der Schneiderpuppe drapiert, bis es so aussah, wie ich es wollte. Danach habe ich es noch einmal ausgebreitet, um zu sehen, wie der Schnitt hätte aussehen müssen. Das Foto unten zeigt oben die Taillen-Kante mit gehefteten Abnähern, unten links die untere Spitze. Rechts und links sind zwar je drei Falten eingelegt (durch eingebügelte Knicke markiert), aber symmetrisch ist es nicht. Das ist für tabliers, wie die Tournürenschürzen auch in den deutschsprachigen Modezeitschriften der Zeit heißen, nicht weiter ungewöhnlich. Eine mehr oder weniger symmetrische fünfeckige Form des Schnitteils ist mehrfach belegt.

Überrock

Überrock


 
Nachdem ich die Falten wieder eingelegt hatte, habe ich auf beiden Seiten eine Art Bundband aufgesetzt, um sie festzuhalten und zu versäubern, das Tablier an den hinteren Teil des Überrocks genäht und obenrum ein Bundband angesetzt, das linksseitig mit Haken und Öse verschlossen wird. Der hintere Teil des Überrocks ist einfach ein Rechteck, ca. 150 cm breit und ca. 15 cm kürzer als der Rock, obenrum so in Falten gelegt (mehr und tiefere Falten in der hinteren Mitte, zur hinteren Mitte schauend), daß er von Seitennaht zu Seitennaht reicht.
 
Nebenher habe ich es noch geschafft, das Trachtenmieder zu leimen. Zur Erinnerung: Es besteht aus einer äußeren Schicht aus Wollsatin, darunter einer Schicht aus dichtem, aber dünnem Leinen, damit sich die Peddigstäbe nicht, wie beim ersten Mieder-Versuch, nach außen bohren können, und dann einer Schicht dickeren „Bauernleinens“. Zwischen dem dünnen und dem dicken Leinen liegen die Stäbe. Die Technik, eine innere Schicht des Mieders zu leimen, um es zusätzlich zu versteifen, wird noch heute in Trachtenschneiderkursen gelehrt; daß das keine moderne Erfindung ist, zeigt die Sektion eines erhaltenen Mieders. Die einschlägigen Kurse verwenden Mehlpapp, d.h. aus Mehl und Wasser gekochten Leim, was unter Authentik-Gesichtspunkten als durchaus plausibel erscheint.
 
Wegen der vielen Parallel-Projekte war ich aber zu faul, Mehlpapp zu kochen und ihn erstmal auf ein Probestück loszulassen. Ein Probestück wäre wegen Mangel an Erfahrung mit Mehlpapp aber nötig gewesen, denn wenn der Leim bis auf die bestickte äußere Schicht durchgesuppt hätte… na, denken wir besser nicht drüber nach, was ich dann getan hätte. Jedenfalls habe ich auf ein mehrfach bewährtes Steifleim-Mittel zurückgegriffen, von dem ich weiß, ob und wie weit es suppt: Ponal. Variante „Classic“. Scheußlicher denglisher Name, aber trotzdem geiles Zeug. Das Foto zeigt das frisch eingeleimte Rückenteil. Wenn der Leim angezogen hat, wird er durchsichtig.

Rückenteil des Trachtenmieders, frisch geleimt

Rückenteil des Trachtenmieders, frisch geleimt

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