Münchner Tracht und ihre Geschichte


 

Trachtenvereine und andere Recherche-Hindernisse

Als ich im Alter von ungefähr 16 Jahren anfing, mich für die Münchner Tracht zu interessieren, gab es noch kein Internet. Es war ungeheuer mühsam, in der Stadt- und Staatsbibliothek Quellen zu suchen, und niemand konnte einem sagen, wie glaubwürdig die Quellen waren. Die meisten Quellen handelten von dem, was ich heute Gebrigstracht nenne (zur Definition siehe "Was ist eigentlich Tracht?") und verschwiegen dabei, daß die Tradition der Gebirgstracht keine 100 Jahre alt war. Daß der lokale Trachtenverein keine gute Anlaufstelle war, war mir damals schon klar: Er nannte sich "Gebirgstrachtenverein", war aber in der Münchner Kiesebene zuhause. Da stimmte etwas nicht. Obwohl ich das ahnte, haben mir Gebirgstrachtenvereine (viele davon sind ja wirklich im Gebirge daheim) jahrelang die Sicht verstellt. Durch die Beschäftigung mit Kostümgeschichte lernte ich allmählich, daß Tracht nichts statisches, für alle Zeiten festgeschriebenes ist, wie die meisten Trachtenvereine suggerieren, sondern daß diese sich mit der Zeit verändert hat.

Es ist noch nicht so lange her, daß mir ein Link zu einem PDF zugespielt wurde, in dem die Entwicklung der Gebirgstrachtenvereine auf eine Weise beleuchtet wurde, die mir plausibel und - was noch viel wichtiger war - gut recherchiert erschien1. Das Themengebiet wird sonst eher ideologisch vernebelt, was (siehe oben) die Recherche sehr erschwert. In dem Artikel heißt es ganz klar: "Bei der Gründung der ersten Trachtenvereine wurde eine neue Form der Tracht 'erfunden', die Gebirgstracht." (Hervorhebung von mir) Die Gebirgstracht basiert ungefähr auf dem, was im frühen und mittleren 19. Jh. von den Landleuten im Oberland getragen wurde, aber die Vereine schränkten die Auswahl der Stoffe, Farben und Schnitte so ein, daß eine Uniform daraus wurde. In den Worten von Otto Dufter jun.: "Die eigentliche bäuerliche Tracht des 19. Jahrhunderts wurde von den Trachtenvereinen nicht gepflegt. Bis zur Gründung der Trachtenvereine war die Tracht ständiger Entwicklung und Veränderung unterworfen. Diese Veränderungen sind durch die Trachtenvereine erheblich verlangsamt oder sogar verhindert worden." 1

Aus dem obigen ergibt sich, daß wir bei der Recherche zu echt regionalen bairischen Trachten die "Gebirgstracht" außen vor lassen sollten - für die Münchner Tracht - eine städtische Tracht der Ebene - sowieso. Auch Artikel in Zeitungen und Journalen, aber auch Wikipedia, sind für die Recherche dadurch diskreditiert, daß sie den Trachtenbegriff nicht wirklich differenziert betrachten (d.h. historische, Gebirgststracht und "moderne" Tracht vermischen) und vieles ungeprüft weiterverbreiten. Mit dieser Erkenntnis können wir uns von einer ganzen Menge Ballast befreien, der einem am Anfang der Recherche in die Quere kommt, aber das heißt auch, ganz von vorn anzufangen.

Auf dem Weg zur historischen Tracht

Mieder mit Miederhaken, um 1760/70
Miesbacherin

Wie schon im Artikel "Was ist eigentlich Tracht?" gesagt: Es gibt nicht eine Münchner Tracht. Auch wenn die Kleidung der normalen BürgerInnen weniger dem Wandel unterworfen war als die der oberen Zehntausend, gab es auch hier verschiedene Stilepochen. Man ahmte den Adel nach, soweit es das Geld zuließ, übernahm hier ein Merkmal und da eins... Die meisten Merkmale wurden mit einer gewissen Zeitverzögerung übernommen und oft mit einer noch größeren wieder fallengelassen. In alten Bildern sieht man z.B.,

Im Allgemeinen übernehmen bürgerliche Trachten Stilmerkmale der herrschenden Mode mit einem gewissen Zeitversatz. Ein gutes Beispiel dafür sind die flügel- oder flossenähnlichen Ärmelaufschläge, die in der "französischen Tracht" (d.h. der allgemeinen Mode) von ca. 1720-1750 üblich waren, in den Trachten Süddeutschlands aber bis um 1800 überdauerten. (Es wäre interessant zu wissen, wann sie in die Tracht übernommen wurden, aber zwischen 1700 und 1760 klafft in meinen Quellen eine große Lücke.) Der Zeitversatz scheint sich im Verlauf der Zeit verkürzt zu haben: Von ca. 50 Jahren im 17. Jh. bis auf wenige Jahre Anfang des 19. Jh., als die die Mieder so kurz waren, daß sie die hohe Taille der Empiremode spiegelten2. Im Biedermeier schließlich holte die Tracht die Mode ein; die überkommenen Gewandteile wurden mit den Keulenärmeln, den Frisuren, der Rocklänge und Schuhmode des Biedermeiers kombiniert. Während also die Gewandteile als solche (Mieder, Haube, Schürze, Einstecktuch) aus früheren Zeiten beibehalten wurden, folgten deren Formen (Rockform und -länge, Ärmelform, Taillenhöhe etc.) der herrschenden Mode.

Die Münchner Tracht, wie sie heute von zwei Vereinen ("Lechler" und "Die schöne Münchnerin") gepflegt wird, ist diejenige, die unmittelbar vor ihrem Aussterben als Alltagskleidung am Ende des Biedermeiers fossiliert wurde3. Die grundlegenden Elemente entstammen dem 18. Jahrhundert: Das steife Mieder ist ein Nachfahre der Schnürbrust, die ursprünglich unter der Oberbekleidung (Caraco oder Robe) getragen wurde, bei der Feldarbeit oder bei jungen Mädchen aber auch schon mal ohne Oberbekleidung. Die daran angebrachten Haken und das zugehörige Geschnür haben Vorfahren im 17. Jh. Kropfketten dürften sich aus Taft-Halsbändern und/oder den Médicis entwickelt haben und wurden schon im späten 18. Jh. getragen; eine andere, praktisch gleichberechtigte Weiterentwicklung ist der schwarze Flor mit Filigran-Florschließe, die ebenfalls schon im späten 18. Jh. in Erscheinung treten. Das Einstecktuch war als Fichu in allen bürgerlichen Trachten des 18. Jh. ebenso präsent wie die Schürze, die in ganz Europa und Nordamerika selbstverständlich zur Ausstattung einer respektablen Bürgerin gehörte. Die Riegelhaube schließlich, die im 19. das Merkmal der Münchner Tracht war, findet sich im 18. Jh. so oder so ähnlich auch außerhalb Münchens, z.B. bei Frau Bögner aus Tauberbischofsheim (rechts).

Auch im 19. Jh. scheint die Strahlkraft der außergewöhnlich ästhetischen Hauptstadtmode groß gewesen zu sein: Mieder, die denen der Münchnerinnen sehr ähnlich sind, finden sich auch im Oberland (z.B. im Tegernseer Tal, Bild links, und sogar in der heutigen Miesbacher Gebirgstracht); in erhaltenen Riegelhauben findet man Etiketten von Riegelhaubenmacherinnen z.B. in Augsburg (Bayrisch-Schwaben) und Regensburg (Niederbayern)4.

Zu den überkommenen Merkmalen gesellten sich, je nach Epoche, Merkmale der Empire- und später der Biedermeiermode, wie z.B. die nicht mehr bodenlangen Röcke, höherliegende Taille, bändergeschnürte Schuhe, Keulenärmel und verkleinerte Riegelhauben, die sich mit den biedermeierlichen Frisuren besser vertrugen als ihre größeren Vorgänger. In dieser Form erreichte die Tracht der Münchner Bürgerinnen eine solche Eleganz, daß sie von Reisenden aus aller Welt mit Begeisterung beschrieben, gezeichnet und gemalt wurde. Auch der König, Ludwig I., fand an der Tracht Gefallen. Sein Hofmaler Stieler verewigte sie für die Nymphenburger Schönheitsgalerie in einem Portrait der Schusterstochter Helene Sedlmayer.

Ab ca. 1840 löste sich die Tracht allmählich in der "normalen" Mode auf (die breitere Verfügbarkeit von Modejournalen trug sicherlich dazu bei, siehe auch "Was ist eigentlich Tracht?") und war gegen Ende des Jahrhunderts beinahe verschwunden. Um die Jahrhundertwende war eine alte, erhaltene Tracht oft nur noch für den Fasching gut, und ich möchte nicht wissen, wieviele davon als oids Graffl in die Mülltonne wanderten.

Was die geographische Verbreitung betrifft, so ist zu bedenken, daß München damals viel kleiner war als heute. Was heute als relativ zentraler Stadtteil gilt - Au, Haidhausen, Neuhausen, Schwabing etc. - war Anfang des 19. Jh. noch ein Bauerndorf außerhalb der Stadtmauern, die aus dem 12. Jh. stammten und erst Anfang des 19. Jh. geschleift wurden, um das Wachstum der Stadt zu ermöglichen. Diese Dörfer hatten zum Teil ganz andere Trachten als München selbst; die im Nordwesten (Neuhausen, Moosach, Allach...) z.B. orientierten sich wahrscheinlich eher in Richtung der Dachau, die Truderinger eher in Richtung Ebersberg usw.

Da ich ein Faible für das 18. Jh.habe, recherchiere ich die Tracht des 18. Jh. und früher, aber auch die "klassische" Tracht der Biedermeierzeit, mit demselben Ziel wie damals, als ich 16 war: sie originalgetreu zu rekonstruieren und zu tragen. Zur authentischen Rekonstruktion der beiden werde ich zwei gesonderte Seiten verfassen.

 

 

1) Dufter jun., Otto, Tracht und Trachtenpflege - sehr zur Lektüre empfohlen
2) Szeibert-Sülzenfuhs, Rita. Die Münchnerinnern und ihre Tracht : Geschichte einer traditionellen Stadttracht als Spiegel der weiblichen Bürgerschicht. Dachau: Verlagsanstalt Bayernland, 1997
weitere Buchempfehlung: Laturell, Volker D. Trachten in und um München. Geschichte - Entwicklung - Erneuerung. München: Buchendorfer, 1998
3) Wie so ziemlich alle Trachtenvereine verwässern beide das Bild der Tracht durch uniformierende Vorschriften.
4) Szeibert-Sülzenfuhs bzw. Privatsammlung