Anatomie eines Spenzers 2

Schärding, rot

 

Ludwig Vogl in dankbarer Erinnerung gewidmet.

 

Das Stadtmuseum Schärding (Oberösterreich) besitzt zwei Spenzer, einen frühen aus Rips und einen späteren aus Lampas. Der hier vorgestellte Spätere gehört eigentlich schon nicht mehr ins 18. Jahrhundert, hat aber direkte Vorläufer (in Stil, Schnitt und Verarbeitung), so daß ich ihn dem langen 18. Jahrhundert zuschlage.

 

Allgemeine Beschreibung

In Form und Zuschnitt entspricht die Jacke dem Typus des Spenzers, der im Süden des deutschen Sprachraums Bestandteil bürgerlicher Tracht um 1805-1820 war1. Vom früheren Exemplar aus Rips unterscheidet sich dieser Spenzer vor allem durch seine Anpassung an die Empiremode: Eine deutlich höher liegende Taille, ein schmaleres Rückenteil, das seitliche Rückenteil ist mit dem Vorderteil verschmolzen und das schmaler gewordene Schößchen wurde nach oben geklappt. Die langen, schmalen und in einem Stück geschnittenen Ärmel und der Rüschenbesatz hingegen haben sich nicht verändert. Sogar die Anzahl der Knöpfe am Handgelenk (2) und die im Fadenlauf und somit schräg zur Ärmelnaht geschnittenen Knopflöcher sind gleich geblieben.

Obwohl die hohe Taille in französischen Modekupfern bereits um 1795 auftaucht, finden sich solch kurze Oberteile im bairischen Sprachraum eher ab 1805. Ein Zeitversatz von 10 Jahren zwischen dem Aufkommen einer Mode in Frankreich und ihrer Übernahme in die bürgerliche und bäuerliche Tracht hierzulande ist im Vergleich zu früher relativ kurz.

 

Der Oberstoff ist leinwandbindige Seide mit broschierten Streublumen in Frühlingsgrün, warmen Rottönen, Blautönen, ganz wenig Gelb, dazu Weiß und Schwarz. Der Untergrund ist dunkelrot mit einem leichten Blaustich, etwa wie verdünnter Rotwein. In manchen Fotos scheint die Farbe eher Richtung Magenta zu gehen, aber das ist ein Artefakt der Farb"korrektur" moderner Handykameras. Flächig über die ganze Stoffbreite sind schmale Streifen aus flottierenden Kettfäden gebildet. Nur vereinzelt zeigt sich ein florales Muster aus Flottierungen in der Farbe des Untergrunds, was auf einen Lampas schließen läßt.

 

Die augenfälligsten Änderungen in der Konstruktion sind die Verschmelzung des Vorderteils mit dem hinteren Seitenteil, so daß das Vorderteil nunmehr fast um den ganzen Oberkörper herumreicht, sowie die veränderte Position des Schößchens: Daß es nun nach oben geklappt ist, macht besonders deutlich, daß es nurmehr das Symbol eines Schößchens ist. Obwohl es nur noch etwa zwei Zentimeter breit ist, ist immer noch ein Rest der großen, ausgesteiften Falten-Welle im Rücken vorhanden, wie sie für Caracos des 18. Jahrhunderts in dieser Region typisch ist. Durch die Art, wie das Schößchen angebracht ist, war es nicht möglich, die Falten im Rücken auseinanderzuziehen und den Zuschnitt zu untersuchen, aber ich bin sicher, er ist genau so wie beim Rips-Spenzer, nur eben kleiner. Einen Unterschied gibt es aber: Wo zuvor einfarbiges Futter war, ist jetzt Oberstoff – durch das hochklappen wäre das Futter sonst auf der Außenseite gewesen.

Eine sehr unauffällige Änderung betrifft die Nähte im Rücken. Anders als bei beiden Caracos und dem Rips-Spenzer wurde das Rückenteil im Oberstoff und Futter zweiteilig zugeschnitten (also nicht im Bruch) und die Teile dann verstürzt zusammengenäht. Die Naht zwischen Vorder- und Rückenteil folgt dann scheinbar wieder dem üblichen Muster, mit Staffiernaht zwischen den Futter-Teilen, und dem Oberstoff des Rückenteils mit umgebugter Kante über die fertige Naht gelegt. Anders als bei den älteren Exemplaren hat man diese Kante aber nicht unauffällig mit einer zarten, fast unsichtbaren Naht, sondern mit einer auffälligen Rückstichnaht mehrere Millimeter entfernt von der Stoffkante – die sich aber nicht aufstellen läßt. Offembar wurden die Oberstoff-Teile verstürzt zusammengefügt und dann mit der Absteppung die ältere Konstruktionsmethode vorgetäuscht. Ist sie deswegen so auffällig? Damit man nur ja sieht, daß angeblich die traditionelle Technik verwendet wurde? Sehen wir hier die ersten Anzeichen einer neuen Konstruktionsmethode?

Das Futter besteht aus glattem, mittelfeinem, halbgebleichtem Leinen in Leinwandbindung; nur der Übertritt des Verschlusses ist mit einer dünnen weißen Seide gefüttert (auch dies ist bei den früheren Jacken ähnlich gelöst). Beidseits der hinteren Mitte wurden Fischbeinstäbe verbaut. Offenbar liegen diese zwischen Futter und Nahtzugabe: Vorstichnähte halten sie am Platz. Eingearbeitete Stäbe hatte auch das grüne Lampas-Caraco, der zeitlich dazwischen liegende Rips-Spenzer aber nicht.

Der Verschluß besteht aus je zwei Haken und Ösen aus Messing, wobei die Ösen links sitzen. In die Rüsche, die den Ausschnitt umgibt, sind zwei Tunnel eingearbeitet, in die Seidenband eingezogen wurde. Das ergibt einerseits eine dekorative Raffung, andererseits sorgt es dafür, daß die Rüsche beim Tragen nicht absteht, was sinnvoll ist, weil sie die Ausschnittkante um mehrere Zentimeter überragt. Der eine Tunnel befindet sich in der Außenkante der Rüsche, der andere verläuft etwa 4 Zentimeter weiter innen parallel dazu. Im Rückenteil verbreitert sich die Rüsche, deren Hälften sich in der hinteren Mitte V-förmig zusammentreffen. Die vom ausschnitt abgewandte Kante der Rüsche wurde zickzackförmig eingereiht.

 

Schnitt

Der Schnitt steht als PDF zur freien privaten oder wissenschaftlichen, nichtkommerziellen Verwendung zur Verfügung.

Abgebildet ist hier nur der Zuschnitt des Oberstoffs. Das Futter hat hier zwar den gleichen Zuschnitt, wurde im Vorderteil aber gestückelt. Rüsche und Schößchen wurden weggelassen, weil sich der Schnitt nicht abnehmen ließ.

Bei einer Rekonstruktion ist zu bedenken, daß der Schnitt nur den Ist-Zustand abbildet, mit allen im Lauf der Zeit entstandenen Verzerrungen durch das Tragen oder die Lagerung sowie zusätzlichen Verzerrungen durch die beschränkten Möglichkeiten, den Schnitt von einem dreidimensionalen Objekt abzunehmen, das man nicht mal einfach plattdrücken kann.

DieÄrmel würde ich vermutlich versuchen im Stoffbruch zuzuschneiden, damit die Unterarm-Teile gleich werden (was sie eigentlich sein sollten), und die Ärmelkugel dann im aufgeklappten Zustand zu korrigieren.

 

 

 

 

 

Bilder

 

 

Literatur


Gierl, Irmgard. Miesbacher Trachtenbuch: Die Bauerntracht zwischen Miesbach und Inn. Weißenhorn: Anton H. Konrad Verlag, 1971
Laturell, Volker D. Trachten in und um München: Geschichte – Entwicklung – Erneuerung. München: Buchendorfer Verlag, 1998
Prodinger, Friederike, und Reinhard H. Heinrich. Gewand und Stand: Kostüm- und Trachtenbilder der Kuenburg-Sammlung. Salzburg: Residenz Verlag, 1983
Szeibert, Rita. Meisterstücke zwischen Mode und Tracht : Caraco- und Spenzergewand. München: Hirmer Verlag, 2017
Szeibert-Sülzenfuhs, Rita. Die Münchnerinnen und ihre Tracht. Dachau: Verlagsanstalt "Bayernland",1997
Zumsteg-Brügel, Elsbet. Die Tonfiguren der Hafnerfamilie Rommel. Ulm: Süddeutsche Verlagsgesellschaft, 1988

 

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