Wie bei jedem Jahrmarktschreier geringfügig übertrieben. 😉
Wer Ärmel mit Flügel-Aufschlägen machen will, steht zwangsläufig vor der Frage, was wo wie befestigt wird. Die Vorstellung, daß der hintere Teil des Flügels frei flottiert und es dabei womöglich gar von hinten an den Ellenbogen zieht, widerstrebt dem modernen Empfinden. Und so sieht man dann auf historischen Veranstaltungen oder im Film die allerseltsamsten Konstruktionen: Flügel, die rundum am Ärmel angenäht werden, womöglich noch auf den Oberarm verlegt (siehe „Katharina die Große“ im Gruselkabinett), oder sie werden oben zugenäht oder, ganz originell, es wird ein halbmondförmiger „Deckel“ oben auf den Flügel gesetzt.
Deshalb fotografiere ich leidenschaftlich gern von unten und hinten in Ärmel hinein.
Bei einer Seidendamast-Jacke in der „Kleiderwechsel“-Dauerausstellung des Germanischen Nationalmuseums scheinen die Flügel tatsächlich fast rundum angenäht zu sein, bis auf eine Fingerbreit. Das weicht aber so stark von den meisten anderen Kleidungsstücken ab, daß sich die Frage stellt, ob das von Anfang an so war – oder ob nicht irgendein Besitzer im Lauf der Jahrhunderte auch dieses oben erwähnte Widerstreben empfand und Maßnahmen ergriff. Oder vielleicht ist die Versteifung der Flügel ihrem Gewicht nicht gewachsen, so daß sie unschön herunterhingen, wenn sie normal angenäht wären. Fragt nicht, wie ich auf sowas komme…
Von unten sieht man leider nicht so viel, weil der Ärmel zu weit von Vitrinenglas weg ist und jemand ihn auch unten zugezwickt hat. Immerhin, man sieht: Einen dunklen Rand, vielleicht 2 cm breit, das ist ziemlich sicher das Futter des Flügels. Mit Saumstich zurücktretend an den Oberstoff staffiert, wie es sich für die Zeit gehört. Den helleren Stoff oberhalb davon halte ich für das Futter des Ärmels. Der Flügel wird also weder mit seiner Oberkante noch mit seiner Unterkante an die Unterkante des Ärmels genäht, sondern die Teile werden teilweise, aber nicht ganz ineinandergeschoben. Da das Ärmelfutter hier hart der Linie des Flügels folgt, müssen die Teile offenbar nicht nur an der Oberkante des Flügels, sondern auch an der Unterkante des Ärmels zusammengenäht worden sein.
Hm. Habe ich das unverständlich genug ausgedrückt? Schnell mal ’ne Skizze:
Betrachten wir den nächsten Ärmel, ebenfalls im GNM, Sonderausstellung „Luxus in Seide“. Für den Überblick zunächst das ganze Gewand von der Seite. Der Ärmel, um den es geht, ist uns hier zugewandt.
Zuerst wieder der Blick von hinten: Hier darf der Flügel hinten frei flattern. Dieser ist mit ungebleichtem Leinen gefüttert und hat die Naht, die den Flügel zum Ring schließt, offenbar auf der Seite, zum Körper hin. Das ist anders als in den bekannten Schnittdiagrammen (Arnold, Waugh), die eine Naht in der Armbeuge zeigen.
Von unten sieht es deutlich anders aus als bei der Jacke eben. Um die Armbeuge herum scheint der Ärmel bis zur Unterkante des Flügels zu reichen und ist dann nur etwa zur Hälfte herum angenäht. Auf der linken Seite, etwa auf halber Höhe, sieht man wie das Ärmelfutter und der Flügel immer weiter auseinanderwandern. Aber, seltsam: vom Flügel sehen wir hier nicht das Leinenfutter, sondern die Seide. Was ist da los? Und wie schafft es der Ärmel, hinter dem Horizont des Rockes zu verschwinden – der ist doch gar nicht so lang/weit?
Die Naht im Futterleinen ist die Antwort: An die hintere Unterkante des Ärmels wurde ein etwa halbovales oder halbmondförmiges Teil angestückelt, um ihn zu verlängern, so daß er die Rückseite des Ellenbogens bedeckt. Was uns wieder zurück an den Anfang dieses Posts führt: Das moderne Empfinden, das womöglich dem der originalen Trägerin gar nicht so unähnlich ist, und die originelle Lösung, der halbmondförmige Deckel – nur daß dieser nicht oben aufgenäht ist, sondern innen frei herunterhängt.
Diese Vorgehensweise war offenbar auch nicht so ungewöhnlich, wie wir beim letzten Ärmel sehen. Diese Française steht (derzeit) in der neuen Barock-Dauerstausstellung des Bayerischen Nationalmuseums. Sie ist auf „um 1750“ datiert und insofern ungewöhnlich, als sie einerseits noch Flügelärmel hat (die um 1750 aus der Mode kommen), aber schon eine Compère. Weißt Du noch, die rote Chintzrobe aus dem vorigen Post? Die hat eine Compère und Volants. Und wurde trotzdem auf 1740-75 datiert. Bei einer Compère bräuchte ich schon ziemlich starke Indizien, um ein Datum vor 1750 draufzupappen. (Und nebenbei gesagt, bei Ärmelvolants auch.)
Tolles Stöffchen, und überhaupt, Streifen! Hach.
Die Beleuchtung erlaubt es leider nicht, zu sehen, was in dem Flügel vorgeht. Von hinten konnte ich auch nichts sehen, weil Madame mit dem Rücken weit vom Vitrinenglas weg steht. Aber eine freundliche Zeitgenossin hat den Ärmel mit grün-weiß gestreiftem (mutmaßlich) Taft gefüttert, so daß man deutlich eine Verlängerung des Ärmels erkennen kann. Die Streifen sind durchgehend, d.h. die Verlängerung könnte angeschitten sein – zumindest im Futter. Ganz oben im Ärmel sieht man etwas weißes. Da das Futter mit Faltenwürfen dahinter verschwindet, gehe ich davon aus, daß das eine vom Museum eingefügte Stütze ist, damit der Ärmel nicht flach hängt (bei der vorigen Robe aus dem GNM sieht man das auch). Wenn man genau hinschaut, sieht man direkt darunter einen Hauch von Rosa im Weiß der Futterstreifen. Ich glaube, da fällt das Licht von hinten in den offen hängenden Flügel und durch einen der lila Streifen des Oberstoffs.
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