Dieser Tage hatte ich eine jener Gelegenheiten, nach denen sich wohl jeder Kostümer die Finger abschleckt: Ich durfte den Schnitt von einer originalen Schnürbrust abnehmen. Leider fiel mir erst hinterher ein, daß das ja eigentlich auch ein dokumentierwürdiges Projekt ist, so daß es vom Schnittabnehmen selbst keine Bilder gibt.
Wie nimmt man den Schnitt von einem Originalteil ab, ohne ihm Schaden zuzufügen? Bei den meisten Schnürbrüsten ist das relativ einfach, weil man sie flach hinlegen kann. Auch die Nähte sind sehr oft schnurgerade. Das ist einfach. Die Schürbrust, die es mir angetan hatte, ließ sich nicht flach auflegen: Die Schulterteile sind ausgesteift und so in Form gebracht, als ob sie sich um eine Schulter schmiegten. Und auf den Zaddeln sind kleine Wülste befestigt.
Meine Methode sieht so aus: Einen dicken Packen großer Zeitungsseiten auf den Tisch legen, als Unterpolsterung. Darauf eine Lage sauberes Seidenpapier, damit keine Druckerschwärze an das gute Stück kommt. Darauf die Schnürbrust, die dort, wo es nötig ist, von zerknülltem Seidenpapier gestützt wird. Darüber wird ein Stück durchsichtiger Folie gelegt; besonders geeignet und günstig finde ich Malerfolie „extra stark“ aus dem Baumarkt. Um das Objekt herum wird die Folie fixiert, indem man Stecknadeln schräg in die Zeitungspapier-Unterlage steckt. Je dünner die Unterlage, desto schräger: Der Kopf sollte nicht zu weit hervorstehen, damit man nicht mit dem Ärmel die Nadel unbemerkt wieder herausreißt, und die Nadelspitze sollte den Untergrund nicht zerkratzen.
Update: Inzwischen kenne ich eine bessere Alternative zum Zeitungspapier als Unterlage, nämlich Puzzlematten. Das sind diese Moosgummi-Matten mit gezahnten Rändern, die man wie Puzzleteile ineinanderstecken kann. Es gibt sie in bunt für Kinder, aber auch für Gymnastik. Strickerinnen spannen darauf Strickstücke. Man kann ähnlich gut Stecknadeln hineinstecken wie in einen Teppich.
Und nun werden die Umrisse und Nahtlinien mit Folienstift durch die Folie gepaust. Dabei ist es wichtig, zuerst eine markante Ecke und eine möglichst lange Linie abzuzeichnen, denn falls die Folie verrutscht – und bei nicht flach aufliegenden Objekten wird sie das tun -, hat man damit immer die Möglichkeit, die Folie neu auszurichten. Daß die Folie verrutscht und oft nicht genau aufliegt, ist eines der Hauptprobleme. Das beste dürfte es sein, mit dem Abzeichnen an einer Ecke anzufangen und mit der freien Hand die Folie behutsam auf das Objekt und um seine Rundungen herum anzudrücken, während man anzeichnet. Und dabei immer wieder auf die erste durchgepauste Ecke zu schauen, ob man auch nicht verrutscht ist.
Wenn man schon einmal ein Objekt von vor 1800 in der Reißen hat, sollte man alle und jede Info mitnehmen, die man finden kann. Das bedeutet auch, den Schnitt von außen und innen abzunehmen. Nicht immer, aber manchmal, ist der Nahtverlauf unterschiedlich. (Bei dieser Schnürbrust war das nur an einer Stelle der Fall, wo die Borte, die die Naht von außen verdeckt, ca. 7 mm neben der Naht im Futter angenäht war.*) Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit, daß man verrutscht oder einer Nahtlinie nicht 100% folgen kann, relativ hoch. Da ist es dann hilfreich, wenn man gewissermaßen vier Kopien hat (rechte und linke Hälfte, jeweils innen und außen) und diese miteinander abgleichen kann. Wobei man nicht vergessen darf, daß es durchaus „legitim“ ist, wenn die Nahtverläufe sich in allen vier unterscheiden, schließlich wurden sie wahrscheinlich gesondert zugeschnitten, auf jeden Fall aber gesondert genäht.
Jede sich bietende Info mitnehmen heißt auch: Fadenlauf, Verlauf und Breite der Stabtunnel, Stückelnähte, Stichart der Nähte, Materialien. Wo auch immer eine Naht aufgegangen oder der Stoff durchgerieben ist, sollte man versuchen, einen Blick ins Innere zu werfen. Gerade bei einer Schnürbrust ist ja interessant, woraus die Basislagen gemacht sind. Bei diesem speziellen Teil wäre es spannend gewesen, zu erfahren, wie die Schulterträger versteift sind, aber ausgerechnet da waren keine Schäden.
Immerhin weiß ich jetzt, daß das gelbliche Einfaßband ursprünglich mal dunkel-altrosa war, nur wenig heller als der Oberstoff. Wahrscheinlich waren auch die Borten auf den Nähten farblich auf den Oberstoff abgestimmt, so daß sich ein völlig anderes Gesamtbild ergab als bei kontrastierenden Borten. Eine wichtige Info, die ich nur bekam, weil ich das ganze Trumm detailliert nach Beschädigungen absuchte und eine Stelle fand, wo sich das Einfaßband abgelöst hatte, so daß ich seine lichtgeschützte Innenseite sehen konnte.
*) Nachtrag: Bei der Weiterverarbeitung wurde klar, daß Oberstoff und Futter sich viel stärker unterscheiden, siehe spätere Einträge.