Originales Korsett um 1905

Heute war ich nach langer Zeit mal wieder in meinem liebsten Antik-Textilgeschäft. Die Spitze, die ich suchte (schwarz, mit Durchzugslöchern für ein Seidenband, für ein Korsett) fand ich nicht, trotzdem habe ich mich mal wieder arm gekauft. Da war auch ein Korsett, das recht kompliziert geschnitten war, wie man es zu Zeiten der S-Linie machte. In wohlhabenderen Zeiten hätte ich es meiner Sammlung einverleibt, aber die sind leider vorbei. Weil ich die Eigentümerin seit Jahren kenne, weil sie es mag, wenn jemand ihre Ware schätzt, und weil sie einfach nett ist, hat sie es mich leihweise mitnehmen lassen, um den Schnitt abzunehmen. Auf Ehrenwort, daß ich es wiederbringe. Wo gibt es sowas noch?
 
Dem Korsett selbst werde ich wohl eine eigene Seite im marquise.de-Universum widmen, aber vielleicht kann jemand davon profitieren, zu sehen, wie ich den Schnitt abnehme, ohne das Teil gleich zu zerlegen.

Das ausgebreitete Korsett von außen


Zunächst wählte ich aus meinem Fundus einige Blatt eines relativ kräftigen Papiers, das eigentlich dazu dient, Sachen einzupacken. Die Bögen sind so groß wie große Zeitungs-Doppelseiten, aber kräftiger als das meiste Packpapier. Packpapier wäre zur Not aber auch geeignet. Den Bogen legte ich glatt auf einen dicken Teppich. Dicke Knüpfteppiche sind genial dafür geeignet, Papierschnittmuster zu fixieren, indem man Stecknadeln schräg durch das Papier in den Teppich steckt.
 
Die Vorderkante des Korsetts legte ich genau auf die kürzere Kante des Papiers und fixierte es auf eben diese Weise. Dann zog ich das erste Schnitteil glatt (nicht zuviel Zug, sonst reißt es die fixierenden Stecknadeln wieder raus!) und steckte in Abständen von ein paar Zentimetern Stecknadeln senkrecht (!) durch die Naht zum zweiten Schnitteil. Da das Korsett aus recht wilden, 3D-formenden Schnitteilen besteht und die Stäbe zum Teil verformt sind, kann man nur ein Schnitteil auf einmal flach auflegen.

Die Nadeln, die die Naht fixieren, machen Löcher im darunterliegenden Papier. Verbindet man die Löcher mit Linien, erhält man die Form des Schnitteils. Um einen genaueren Umriß zu bekommen, stach ich zwischen den fixierenden Nadeln jeweils noch zwei- bis dreimal entlang der Naht durch. Überall da, wo Fischbeinstäbe angebracht waren, stach ich auch entlang der Stäbe ein. Um sicherzugehen, daß ich die Stab-Umrisse später nicht mit einer Nahtlinie verwechsle, stach ich für die Stab-Umrisse zwei Löcher dicht nebeneinander.
 
Auf diese Weise legte ich ein Schnitteil nach dem anderen flach auf und stach die Umrisse durch. Dann verband ich die Löcher im Papier erst mit Bleistift, dann – für bessere Sichtbarkeit – mit Filzstift.

Das sah schon ganz gut aus, aber es konnte nicht der endgültige Schnitt sein. Wie gesagt, die Schnitteile sind recht wild. Zwei Teile sind Y-förmig gegabelt, und in die Gabelung ist ein Keil eingesetzt. Wäre es möglich, das Schnitteil mitsamt Keil flach aus einem Stück Stoff zu schneiden, hätte man sich nicht die Mühe gemacht, einen Keil einzusetzen. Bei dem Teil mit dem Hüftkeil konnte ich den unteren Teil flach auflegen, aber der obere war zusammengeknautscht. Als ich versuchte, den oberen Teil ebenfalls flachzuziehen, zog es die Nadeln aus dem unteren Teil. Ein Keil weist darauf hin, daß man eine Auswölbung erzielen wollte – die dritte Dimension.
 
Die Analyse des Fadenlaufs je Schnitteil bestätigte dies: In den Y-förmigen Teilen verlief sie in der flachgezogenen Zeichnung im gegabelten Teil anders als im „Stiel“ des Ypsilons. Ein Hinweis darauf, daß der eingesetzte Keil die Beine des Y auseinanderdrückt. Diese beiden Teile legte ich also noch einmal auf ein frisches Stück Papier, nadelte ein Bein und den Stiel des Y fest, und legte nun das andere Bein so hin, daß der Fadenlauf in beiden Beinen und dem Stiel die gleiche Richtung hatte. Davon abgesehen ging ich vor wie oben beschrieben. Das Ergebnis sieht so aus:

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