Gründerzeit-Röcke sind so ein Thema, wo man wieder mal alles vergessen muß, was man über Röcke zu wissen glaubt. Heutzutags würde man niemals Rockfutter und -oberstoff in einem zuschneiden und verarbeiten. In der Gründerzeit auch nicht: Die Zeit der in-eins-Röcke war sowas um 1900-1910. Trotzdem lief es damals anders. Siehe auch hier.
Meine dort ausgeführten Thesen untermauert nicht nur ein zeitgenössisches Schneiderei-Lehrbuch, das ich endlich, endlich ergattern konnte (Lechner/Beeg: Die Anfertigung der Damen-Garderobe, 1886), sondern auch der eine Rock in meinem Fundus, den auszupacken ich mich überreden konnte.
Die These lautet: Die Röcke sind nicht wirklich gefüttert; das Futter ist vielmehr der Rock. Alles, was man am Ende sieht, ist darauf drapiert.
Schauen wir uns mal den Rock zu der lila Taille an, die ich wegen ihrer Länge auf sehr frühe 1880er datiert habe.
Wir befinden uns am Saum des Rockes, irgendwo weit oben ist der Bund. Das Rockfutter aus bräunlichem Chintz (zu erkennen am Glanz) wurde nach oben geklappt, so daß wir hier die Innenseite sehen. Daß die glatte, glänzende Seite des Chinzes nach innen (zum Körper hin) zeigt, ergibt Sinn: Die glatte Seite haftet nicht so am Unterrock. Die Unterkante ist mit einem grob angedengelten, vermutlich wollenen Band belegt, um den fast bodenlangen Saum gegen Abstoßung zu schützen.
Das gleiche Bild wie oben, nur wurde jetzt der Saum runtergeklappt – dahin, wo er hingehört. Wir sehen, daß er außen mit Oberstoff belegt wurde. Der Oberstoff wurde in dem wollenen (?) Belegband mitgefangen. Oben eine Reihe Falten, die – wie vorhin der Saum – nach oben weggeklappt sind, so daß wir ihre Innenseite sehen.
Nun sind die Falten runtergeklappt. Sie bilden die sichtbare Unterkante des Rockes. Und was sehen wir darüber? Unseren alten Bekannten, den Chintz! Wir haben also eigentlich einen Rock aus Chintz, an den man unten ein paar Falten angenäht hat, und noch einen Beleg darunter, falls der Wind die Falten mal hochhebt.
Hier ist nun der Oberrock auch nach unten geklappt, so daß er den rohen Chintz von eben und die Ansatznaht der Falten verdeckt. Unten schauen die Falten raus. An dieser Stelle trifft die Vorderbahn (links) des Oberrocks auf die Rückbahn. Beachte die kleinen horizontalen Fältchen.
Dies ist fast die gesamte Seitenansicht des Rockes; in der Bildmitte verläuft die linke Seitennaht. Die Vorderbahn liegt in mehreren senkrechten Falten; die Hinterbahn wurde in relativ kleine waagerechte Falten gelegt und dann an die Vorderbahn angenäht. Dadurch entsteht hinten ein gemäßigter Bausch, wie er für die Zeit um 1880-81 üblich ist.
Der Oberrock ist vorn in Zaddeln geschnitten, was versäuberungstechnisch ein ziemlicher Aufwand gewesen sein dürfte. Ach was, ich sag’s, wie’s is‘: Eine verfluchte Drecksarbeit! Aber wir haben ja schon festgestellt, daß Arbeit noch nicht viel kostete.
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