Original-Taillen, Teil 3

Die obere Reihe zeigt rechte Vorderkanten. Die untere Reihe kriejen wa späta.


Was fällt auf? Alle Vorderkanten sind gebogen, um der Korsettlinie zu folgen. Entweder wird ein Beleg aufgesetzt (braune Taille, Bild 2, mit schwarzem Beleg), der dann ein bißchen gerafft wrden muß, um dem Bogen folgen zu können, oder die Vorderkante wird nach innen umgeklappt – dann muß sie eingeschnitten werden. Der Einschnitt kann mehr (creme, Knopflochstich) oder weniger (blau, überwendlich) ordentlich versäubert sein oder knallhart sich selbst überlassen werden (lila). Bei Blau hat man immerhin noch ein bißchen Oberstoff untergelegt, als ob das noch etwas rettet.
 
Bei Creme und Lila wurde das Schnitteil offenbar an die Webkante angelegt, d.h. zunächst gerade geschnitten, und dann der Bogen durch mehr oder weniger starkes Einschlagen bewerkstelligt.
 
Zur unteren Reihe:
1: Detail des relativ ordentlich versäuberten Einschnitts.
2: Linke Vorderkante. Ein Seidenband als Verstärkung, um die Knöpfe zu tragen, darauf ein Fischbeistab gesetzt. Vorspringender Untertritt.
3: Linke Vorderkante mit Untertritt. Die „Versäuberung“ bestand offenbar darin, so lange Fäden auszuzupfen, bis nichts mehr franste. Dann wurde der Untertritt lieblos mit großen, ungleichmäßigen und schiefen Vorstichen aufgedengelt.
4: Beide Vorderkanten gegenübergestellt. Symmetrie? Och nööö, wird überbewertet. Wieder ein Seidenband, das die Knöpfe trägt.
 
Warum nochmal hatte sich bei mir, trotz dieser vier Gegenbeispiele, der Eindruck gehalten, man hätte in der Gründerzeit ordentlich versäubert? Wahrscheinlich, weil die innen offen liegenden Nahtzugaben tatsächlich oft mühselig umstochen oder gar mit schmalem Seidenband eingefaßt sind. Und die fallen immer als erstes ins Auge.
 
Bei den Schnitten von Truly Vitorian sind die Vorderkanten immer gerade, bei den Originalen – wie wir soeben gesehen haben – nicht. Sind die TV-Schnitte also unauthentisch? Ja, aber mit gutem Grund. Heutige Korsettschließen sind immer stangerlgrad, selbst die Löffelplanchets sind nur ganz unten ein bißchen nach innen gezogen. Wenn man originale Korsetts im Profil anschaut, sind über dem Oberbauch eingezogen und wölben sich über dem Unterbauch vor – so ein Korsett braucht eine gebogene Vorderkante. Heutigen Kundinnen kann man so ein Korsett wahracheinlich nicht verkaufen: Der Bauch muß flach sein, komme was nicht wolle! Also gibt es die entsprechenden, gebogenen Planchets nicht mehr. Hätten die TV-Schnitte authentisch gebogenen Vorderkanten, würden sie über Korsetts mit geraden Planchets nicht richtig sitzen, und die Leute bei Truly Victorian würden von enttäuschten Kundinnen die Ohren vollkriegen.

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