Das Stadtmuseum Schärding (Oberösterreich) besitzt drei Schnübrüste, die sehr wahrscheinlich zur gleichen Zeit entstanden sind. Sie ähneln in ihrer Machart zeitgenössischen Schnürbrüsten internationaler Modesammlungen, weisen aber Merkmale auf, die sie vor allem mit Expemplaren in süddeutschen und österreichischen Trachtensammlungen gemein haben. Ich nenne sie die drei Schärdinger Schnübrüste "die Blaue", "die Braune" und, weil ebenfalls braun, "die mit Stecker".
Der Oberstoff wirkt zunächst wie ein zeittypischer Lampas liséré, aber tatsächlich ist nur ein leinwandbindiger, dunkelbrauner Grund zu sehen, über den Schüsse aus Seidenfilament flottieren. Ein dunkelbrauner Schuß ergibt ein Hintergrundmuster; darüber liegt ein florales Muster von Rosen in drei Tönen Rot, Stielen und Blättern in Hellgrün, andere Blumen in Blaßgelb und zwei Tönen Blau, dazu Goldgespinst (weiß-gelbe Seidenseele, eher sparsam mit Gold unsponnen) und Silberlahn (aka Plasch, Plätt). Die Nähte sind von ungewöhnlich breiten Bändern verdeckt, deren Kette und Schuß aus einem ebenfalls sparsamen Gespinst* bestehen und in Kettrichtung von fünf weit (über 6 Schüsse) flottierenden Silberlahn-Fäden durchzogen werden.
Ein ebensolches Band rahmt die vordere Zierschnürung ein, die aus Gespinst-Kordeln besteht. Oberhalb der Zierschnürung liegt an der Oberkante entlang eine breite Borte Klöppelspitze, wieder aus Goldgespinst, aber mit einem etwas höheren Goldanteil. Die Borte deckt den gesamten Bereich zwischen Oberkante und Schnürung ab, wie es vermutlich auch ursprünglich bei der Blauen war.
Das leinwandbindige braune Versäuberungsband für die Schnittkanten ist so gut erhalten, daß sich nicht sagen läßt, ob darunter (wie bei "der Blauen") ein zusätzlichen Einfaßband aus Leder liegt. Die Zaddeln sind von innen mit cremefarbenem Verloursleder belegt, das um die Kanten herum nach außen gelegt und dort anstaffiert wurde.
Genau wie "die Blaue" ist auch "die Braune" halbversteift, mit wellenförmigen Zierstichen zwischen den Stabtunneln. Zierstiche und Tunnel sind in dunkelbraunem Seidenzwirn ausgeführt, der nur eine Spur dunkler ist als der Stoffgrund. Die Ösen der rückwärtigen Schnürung sind mit dem gleichen Zwirn umstochen. Das Futter wurde dabei nicht mitgefaßt: Im Futter stellt sich die Schnürung als unversäuberte Löcher im Stoff dar. Anzahl und Anordnung der Ösen ist wie bei der Blauen.
Für die weitere Beschreibung sowie die Konstruktion verweise ich auf den Artikel über die blaue Schnürbrust, denn die beiden gleichen sich sehr. Es wurde der gleiche Futterstoff verwendet, der gleiche Schnitt, die gleiche Konstruktion inklusive der Taschen im Futter und der Hüftpolster, ja sogar die Größe ist gleich. Von den unterschiedlichen Farben abgesehen ist der auffälligste Unterschied der Zustand: Wo die Blaue stark abgenutzt und vielfach repariert ist, ist die Braune ausgesprochen gut erhalten. Nur an wenigen, exponierten Stellen ist der Stoff leicht berieben und die Schnürösen kaum verformt, geschweige denn ausgerissen. Es ist, als ob die Eigentümerin der blauen Schnürbrust sich zwei Exemplare anfertigen ließ, eine davon aber lieber mochte. Oder aber die Braune wurde später in der gleichen Werkstatt angefertigt. Der gleiche Futterstoff spricht nicht unbedingt dagegen: Die Eigentümerin könnte noch etwas davon zurückbehalten haben.
Eine kleine Abweichung gibt es allerdings; vielleicht erklärt sie eine mögliche Präferenz der Trägerin für die blaue Schnürbrust: Im seitlichen Schnitteil gibt es eine Stelle, die eine Art Abnäher zu sein scheint, den es bei der Blauen nicht gibt. An dieser Stelle ist keine Naht vorgesehen; der Stoff wölbt sich so stark gerundet in die Naht hinein, daß sie wohl alle drei Lagen (den Oberstoff, die den Oberstoff verstärkende äußere Leinenschicht und die innere Leinen- oder Rupfenschicht) umfaßt. Nur das Futter liegt glatt darüber. Es könnte sich um eine Änderung handeln, die noch in der Werkstatt vorgenommen wurde, z.B. weil die Taille zu weit geraten war, was aber erst in einem späten Verarbeitungsstadium auffiel, als die Schnitteile schon jedes für sich fertiggestellt waren und nicht mehr einfach geändert werden konnten. Möglicherweise saß die ferige Schnürbrust trotzdem nicht richtig gut, oder der Wulst, der durch den Abnäher entstand, drückte die Trägerin.
Der Schnitt steht als PDF zur freien privaten oder wissenschaftlichen, nichtkommerziellen Verwendung zur Verfügung.
Bei einer Rekonstruktion ist zu bedenken, daß der Schnitt nur den Ist-Zustand abbildet, mit allen im Lauf der Zeit entstandenen Verzerrungen durch das Tragen oder die Lagerung sowie zusätzlichen Verzerrungen durch die beschränkten Möglichkeiten, den Schnitt von einem dreidimensionalen Objekt abzunehmen, das man nicht mal einfach plattdrücken kann.
*) zeitgenössischer Begriff für Seidengarn,
das spiralförmig mit sehr dünn gewalztem Gold- oder Silberdraht
umwickelt wurde. Heute z.B. als Japangold bezeichnet. z.B. Johann Karl
Gottried Jacobsons technologisches Wörterbuch, Zweyter Theil, von G bis
L. Berlin und Stettin: Friedrich Nicolai, 1782.
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Hutter, Ernestine. Adrett geschnürt. Salzburg: Carolino Augusteum,
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