Dieses Caraco wurde auf einem Flohmarkt in einem südlichen Münchner Vorort verkauft, zusammen mit einer Männerweste aus etwa der gleichen Zeit sowie einer bestickten Brokathaube. Ich hatte das unwahrscheinliche Glück, diese Teile fotografieren und vermessen zu können, bevor die Flohmarkt-Finderin (die keine Ahnung hatte, was sie da gekauft hatte) sie auf eBay weiterverkaufte. Leider habe ich damals keine Notizen gemacht, so daß ich nur nach den Fotos und meiner Erinnerung gehen kann und den Zeitstempeln der Fotodateien nach ist das Ganze fast 15 Jahre her.
Auf den ersten Blick wirkt das Caraco wie eine Jacke aus einem J.P.Ryan-Schnitt, mit kurzen Ärmeln, andersfarbigen Ärmelaufschlägen und einem gelben Stecker.
Allerdings ist es das nicht.
Jemand hat im 20. Jahrhundert die Jacke so umgebaut, wie diese Person vermutlich der Meinung war, daß eine Jacke des 18. Jh. aussehen soll. Ich frage mich, ob diese Person wußte, daß sie sich an einem Original zu schaffen macht, und wenn ja: Ob es eine Hölle gibt. Immerhin: Die Person hat nichts abgeschnitten, nur weggefaltet.
Die folgende Beschreibung versucht, die Änderungen verbal rückgängig zu machen.
Form und Zuschnitt entsprechen insgesamt denen eines süddeutschen Caracos: Ein in der Taille schmal zulaufendes Rückenteil mit angeschnittenem Schoßteil, ein gebogen geschnittener, angenähter Schoß, großer Halsausschnitt, Knopfschluß mir rchts sitzenden Knöpfen (leider entfernt). Während bei anderen Exemplaren nur ein Vorderteil gemacht wurde, das weit um die Seite herumreicht, weist diese Jacke eine Seitennaht auf. Allerdings findet sich die Seitennaht nur im Oberstoff, so daß man sie auch als eine Art Stückelnaht interpretieren könnte.
Im vergleich mit den Schärdinger Caracos ist der angeschnittene Schoß im Rückenteil so gedreht, daß die zur hinteren Mitte hin liegende Kante kaum über die gedachte Mittellinie des Rückens hinausragt, während die andere Kante von der Taille aus steil nach oben strebt (siehe Illustrationen unten). Sparsames Zuschneiden war auf diese Weise vielleicht einfacher allerdings scheint das nicht die Priorität der Schneider:in gewesen zu sein, denn das Muster ist an der hinteren Mitte gespiegelt. Das allerdings wäre bei einem Zuschnitt wie bei den Schärdinger Caracos nur mit Stückeln oder mit horrendem Verschnitt möglich gewesen.
Schärdinger Lampas-Caraco
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Dieser Caraco
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Das Vorderteil wurde mit acht Knöpfen geschlossen; die links sitzenden Knopflöcher sind mit blaßgelbem Seidengarn umstickt.
Der Oberstoff ist ein kleinmustriger, einfarbiger Seidendamast in Himmelblau. Das Muster weist einige Stilelemente auf, wie sie ab den 1760ern in Mode kamen, allen voran mäandernde Bänder von "Spitze". Das Futter des Korpus' ist aus halbgebleichtem Leinen, das des Schößchens aus leichtend rotem, stark glänzendem Chintz. Anders als beim Oberstoff ist das Futter des Rückenteils im Stoffbruch zugeschnitten. Entlang der hinteren Mitte laufen im Futter, aber nicht im Oberstoff, drei parallele Vorstich-Linien, die wohl usrprünglich Tunnel für Fischbeinstäbe waren. Damit ist klar, daß es zwischen dem Futter und dem Oberstoff noch mindestens eine Stoffschicht geben muß. Auf der Knopfloch-Seite wurde ein Beleg aus dem gleichen roten Stoff angebracht, mit dem auch das Schoßteil gefüttert ist.
Anders als bei den meisten Caracos in Abblidungen und anders als bei den Schärdinger Exemplaren sind die Ärmel lang und schmal und sehr wahrscheinlich geknickt zugeschnitten. Ein Schlitz am Handgelenk weist zwei Drahtösen auf, aber gegenüber keine Haken. Möglicherweise sind auch die Ösen nicht original. Ein in der Achselgegend im Oberstoff eingesetzter Keil scheint original (d.h. eine Stückelung) zu sei, da das Futter hier keine nachträglichen Änderungen aufweist.
Nur, um alle Zweifel auszuräumen: Weder der gelbe "Stecker" noch die Ärmelaufschläge gehören zum Originalzustand, auch wenn beide Stoffe ebenfalls aus dem 18. Jh. stammen (vermutlich hat da jemand etwas Liturgisches geschlachtet). Das beige Band am Halsausschnitt wurde zur gleichen Zeit angebracht wie der "Stecker". Die Spitze am Hals soll wohl ein fest installiertes Fichu vortäuschen. Die Qualität der Spitze ist recht gut; vielleicht war sie im 19. Jh. mal ein Schultertuch.
Da nun also die Ärmel ursprünglich bis zum Handgelenk reichten und dort so schmal waren, daß es einen Schlitz geben mußte, um mit der Hand hindurchzukommen, schätze ich die Jacke auf 1790er bis hin zu 1810.. In der französischen Tracht waren lange Ärmel um 1785-95 üblich, und da der Einfluß der hohen Empire-Taille bereits kurz nach 1800 in die Trachten in und um München einsickert, ist das Zeitfenster für eine Kombination aus normal hoher Taille und langen Ärmeln relativ kurz. Der im Vergleich zu den Schärdinger Exemplaren schmalere Schoß spricht ebenfalls für diese Datierung.
Die Nähte scheinen nach der beim Droguet-Caraco beschriebenen Methode gemacht zu sein; wie dort ist die Mittelnaht zumindest dem Anschein nach anders verarbeitet als die anderen: An der Mittelnaht entlang sieht man in ein, zwei Millimetern Abstand die Pünktchen einer Naht, bei anderen Nähten nicht. Andererseits ist bei fast allen Nähten im Futter ist eine Seite anstaffiert; was dafür spräche, daß diese Technik bei allen Nähten angewendet wurde. Einer schadhafte Stelle der Ärmelnaht läßt keinen zweifel, daß die Ärmel so eingesetzt wurden.
Die angenähten Schoßteile wurden an den Schoß des Rückenteils gesetzt wurden, indem man die Zugaben von Oberstoff und Futter beider Teile gegeneinander bugte und dann durch alle Lagen nähte. An einer Schadhaften Stelle ist zu erkennen, daß sich unter dem roten Chintz eine Schicht Papier, darunter Roßhaar und darunter Rupfen befindet. Zwischen dem groben Rupfen und dem feinen Oberstoff würde ich eine schützende Schicht aus etwas feinerem Stoff erwarten, aber falls es eine gibt, ist sie nicht zu sehen.
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Bei einer Rekonstruktion ist zu bedenken, daß der Schnitt nur den Ist-Zustand abbildet, mit allen im Lauf der Zeit entstandenen Verzerrungen durch das Tragen oder die Lagerung sowie zusätzlichen Verzerrungen durch die beschränkten Möglichkeiten, den Schnitt von einem dreidimensionalen Objekt abzunehmen, das man nicht mal einfach plattdrücken kann.
Im vorliegenden Fall wurde die Aufgabe durch die nachträgliche Änderung zusätzlich erschwert. Ein Ärmelschnitt konnte daher nicht abgenommen werden. Für eine Rekonstruktion empfehe ich, sich an anderen Ärmelschnitten um 1790/1800 zu orientieren.
Gierl, Irmgard. Miesbacher Trachtenbuch: Die Bauerntracht zwischen
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Laturell, Volker D. Trachten in und um München: Geschichte
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Prodinger, Friederike, und Reinhard H. Heinrich. Gewand und Stand: Kostüm-
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Szeibert, Rita. Meisterstücke zwischen Mode und Tracht : Caraco- und
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Szeibert-Sülzenfuhs, Rita. Die Münchnerinnen und ihre Tracht.
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Zumsteg-Brügel, Elsbet. Die Tonfiguren der Hafnerfamilie Rommel.
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