Was ist Bürgertum?

im 18. Jahrhundert

 

Der übliche Geschichtsunterricht hinterläßt beim Opfer oft den Eindruck, daß es bis vor kurzem eigentlich nur drei Klassen der Gesellschaft gab: Den Adel, den Klerus (beide stinkreich) und "die Bürger". So definiert es das französische Gesetz von 1789, das aber den Bauernstand ignoriert. Zwar gab es schon um 1705 in Bayern eine "Gemein der Bürger und Bauern", die den "vierten Stand" (eben die Bauern) einbezog, aber der zugehörige Aufstand wurde in der Sendlinger Mordweihnacht brutal niedergeschlagen.

Je länger ich mich mit der Alltagskultur des 18. Jh. befasse, desto deutlicher wird, daß die Geschichtslehrer auch nur mit Wasser kochen, im Detail wenig Ahnung haben* und den gleichen Klischees aufsitzen wie die Meisten, die da lauten: Der Adel badete im Luxus (aber keinesfalls in Wasser), das Bürgertum (incl. Bauern) litt Hunger. Dabei gab es durchaus verarmten Adel, der sich Geld leihen mußte, um den standesgemäßen Lebensstandard aufrechtzuerhalten, und reiche Bürger, die eben jenen verarmten Adligen das Geld aus der Portokasse liehen.

Betrachten wir also einmal die soziale Schichtung "unterhalb" von Adel und Klerus. In den Städten, zumal den freien Reichsstädten, wäre da zunächst das Patriziat: Führende Funktionäre der Handwerksgilden und reiche Kaufleute, aus deren Reihen sich der Stadtrat zusammensetzte, Richter und andere Gelehrte. Sodann höhere Amtsträger, Akademiker, Meister der angeseheneren Handwerksberufe (Goldschmied, Uhrmacher, Perückenmacher, Seidenweber, Bader) und natürlich die wohlhabenderen Kaufleute. Überhaupt scheint die soziale Einordnung der Kaufleute, anders als bei anderen Berufen, fast ausschließlich von ihrem Einkommen abhängig gewesen zu sein: Man findet sie in allen Schichten, vom Fernhandelskaufmann mit eigenen Schiffen bis hinunter zum Wanderkrämer, der von Dorf zu Dorf zieht. Die nächste Schicht umfaßt die Meister der "normalen" Handwerke, Polizeidiener, Amtsknechte, gehobene Gastwirte, mittlere Verwaltungsbeamte – und halbwegs wohlhabende Kaufleute. Dann Handwerksgesellen, Kneipenwirte, Krämer, selbständige Bauern, städtische Bedienstete, ländliche Bedienstete, Tagelöhner.

Das sogenannte Bürgertum ist also, was Ansehen und Wirtschaftskraft betrifft, ähnlich differenziert wie heute vom Langzeitarbeitslosen bis zum Manager. Selbst der Bauernstand, den man sich infolge des Geschichtsunterrichts gemeinhin als die unterste (=ärmste) Gesellschschaftsstufe vorstellt, ist differenziert in selbständige Bauern mit großem Landbesitz, die es wirtschaftlich leicht mit den mittleren Stadtbürgern aufnehmen können, solche, die mehr oder minder gut über die Runden kommen, und solche, die neben einer Kleinlandwirtschaft auch noch ein Handwerk wie z.B. Weberei ausüben oder saisonal als Wirte fungieren (z.B. mit Häckler- oder Heurigenwirtschaften).

Es wäre verfehlt, den Blick ausschließlich auf die Kleidermoden des Adels zu richten, wie es die meisten Bücher zur Kostümgeschichte tun, und dabei den Großteil der Bevölkerung außen vor zu lassen, weil der vermeintlich nur in Sack und Asche ging. Das 18. Jahrhundert ist schließlich bekannt dafür, daß in dieser Zeit das Bürgertum zu Selbstbewußtsein und Wohlstand gelangte und zumindest mit dem niederen Adel auf Augenhöhe verkehrte**. Man mag die extreme Prachtentfaltung des Adels im Gefolge des Absolutismus als Verschwendung geißeln, aber andererseits war sie auch eine große Wohlstands-Umverteilungs-Maschine: All die Pracht mußte von jemandem geschaffen werden, nämlich von Handwerkern. Sie ernährte Goldschmiede, Vergolder, Steinschneider, Porzellanmaler, Uhrmacher, Spinnerinnen, Näherinnen, Putzmacherinnen, Seidenweber, Parfümeure, Elfenbeinschnitzer, Spitzenklöpplerinnen, Teppichknüpfer und viele andere Berufszweige der Luxusindustrie, die sich in der Nähe ihrer Kundschaft (also in den und um die Städte) niederließen. Die Nähe zu den oberen Zehntausend füllte nicht nur die Kassen, sondern färbte auch auf das Ansehen und Selbstbewußtsein der Beschäftigten ab. Wie Mooshammer und Moss zeigen, funktioniert dieser Mechanismus heute noch. Ganze Städte gelangten wegen der Luxusindustrie zu Wohlstand: Dieppe durch Elfenbeinschnitzerei, Lyon und Spitalfields durch Seidenweberei, Alençon und Argentan durch Spitzenfertigung etc.

Daß die so zu neuem Reichtum gekommenen Bürger diesen zur Schau stellten, indem sie ihrerseits Luxusgüter erwarben und Bedienstete anstellten, ist nur natürlich. Für einen wohlhabenden bürgerlichen Haushalt war es selbstverständlich, wenigstens eine Magd und einen Knecht zu beschäftigen. Dadurch wurde der Wohlstand weiter "nach unten" verteilt.

Innerhalb des Bürgertums kann man zwei Hauptgruppen unterscheiden: Stadtbürger und Landvolk. Es leuchtet ein, daß in einer Zeit ohne Massenmedien und öffentliche Verkehrsmittel das Landvolk von aktuellen politischen wie modischen Entwicklungen nicht viel mitbekam. Da das Landvolk fast ausschließlich auf Schusters Rappen angewiesen war, sorgte allein die Entfernung zur nächsten Stadt dafür, daß Nachrichten ebenso wie lukrative Aufträge kaum auf dem Land ankamen. Stadbürger, die es sich leisten konnten, Seide zu tragen, bezogen diese zumeist aus den Zentren der Seidenweberei, die das Monopol auf entsprechendes Wissen und Können hatten; nur für die alltägliche Wäsche wurde lokal eingekauft***. Der Kontakt des Landvolks zu den aktuellen Entwicklungen in der Stadt wurde vor allem durch diejenigen gehalten, die ihre Waren auf dem Wochenmarkt verkauften oder zu Auftraggebern in der Stadt brachten. Wenn man also von der Emanzipation des Bürgertums spricht, meint man damit vor allem den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg der Stadtbürger, während das Landvolk in jeder Hinsicht abgehängt wurde.

zurück

 

*) Was ich ihnen nicht zum Vorwurf machen will, da ihr Wissen mehr in die Breite als in die Tiefe gehen muß.
**) In den Memoiren von Casanova, Sohn eines Schaupielers und einer Handwerkerstochter, kommt dies besonders gut zur Geltung.
***) nachzulesen z.B. in "Die junge Häushälterinn", 1787-1807